Mount Everest: Nach Jahrzehnten entdeckten sie einen steif gefrorenen Leichnam - WELT (2024)

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Der Tag begann verheißungsvoll. Keine Wolke trübte den Himmel, als George Leigh Mallory und Andrew Irvine am 6. Juni 1924 kurz nach Morgengrauen aus ihrem dünnen Leinwandzelt krochen. Sie hatten gut geschlafen in 7066 Metern Höhe auf dem windgepeitschten Nordsattel des Mount Everest. Binnen der nächsten 60 Stunden wollten die beiden Briten als erste Menschen den mit 8848 Meter höchsten Gipfel der Welt bezwingen.

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Ihr Kamerad Noel Odell hatte ihnen ein deftiges Frühstück aus gebratenen Sardinen, Keksen, Tee und heißer Schokolade zubereitet. Doch Mallory und Irvine würdigten seine Geste kaum, denn sie wussten: Heute war ihre letzte Chance. Bald schon würde der Monsun jeden Versuch unmöglich machen, den Gipfel während dieser Expedition zu erreichen. Doch die beiden waren zuversichtlich. Gehüllt in dicke Tweedanzüge brachen sie gegen 8.40 Uhr morgens auf. Odell drückte auf den Auslöser seiner Kamera. Es sollte das letzte Foto sein, das Mallory und Irvine lebend zeigte.

Denn der knapp 38-jährige Mallory und sein 22-jähriger Begleiter kehrten nie mehr zurück. Erst ein Dreivierteljahrhundert später, im Jahr 1999, entdeckte eine Suchexpedition auf 8159 Meter Höhe am Abhang des Nordostgrats einen steif gefrorenen Leichnam. Der Tote lag auf dem Bauch, den Kopf zum Hang hin und die Arme nach vorn gestreckt. Rücken und Beine waren fast nackt, die aus Wolle oder Baumwolle bestehende Kleidung verschwunden. Bei der Leiche fanden sich ein Ersatzhandschuh, eine Schneebrille und eine kaputte Uhr. Zwei Taschentücher mit dem Initialen „G.L.M.“ und Etiketten in der erhaltenen Kleidung auf der Unterseite des Leichnams offenbarten seine Identität, die später mittels DNA-Analyse bestätigt wurde.

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George Leigh Mallory hatte als der beste Bergsteiger seiner Zeit gegolten. Der Pfarrerssohn und Absolvent der Cambridge University verdiente sein Geld als Lehrer. Vor allem aber unternahm er riskante Klettertouren in den Alpen. 1909 und 1912 waren Menschen bis an beide Pole vorgedrungen, und so gab es nun, nach der Zäsur des Weltkriegs 1914 bis 1918, auf der Erde nur noch ein Ziel für derartige Pionierleistungen: der höchste Gipfel der Erde.

Der Sturm auf den Everest war gründlich vorbereitet: Schon 1921 hatte eine erste Expedition die Umgebung des Berges erkundet. Das Team aus Briten und bergerfahrenen Einheimischen, den Sherpas, fand einen Weg bis auf rund 7000 Meter Höhe. Im folgenden Jahr brach die nächste Expedition auf; diesmal mit dem Ziel, den Gipfel zu bezwingen. Man kam bis auf 8225 Meter, doch dann riss eine Lawine sieben Sherpas in den Tod; deshalb wurde der Versuch abgebrochen. Nach einem Jahr Pause folgte der nächste Anlauf im Frühjahr 1924.

Nur ein Mann nahm an allen drei Anläufen teil: Mallory. Er war faktisch der Kopf der Expedition, auch wenn er die Leitung dem Offizier Edward F. Norton überließ. Zum Beispiel entschied Mallory, mit dem jüngsten Team-Mitglied zu klettern, dem Studenten Andrew Irvine. Der verfügte zwar nicht über Erfahrung als Bergsteiger, hatte sich jedoch bei einer Expedition der Oxford University nach Spitzbergen 1923 als körperlich stark, umsichtig und stets gut gelaunt erwiesen.

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Zwei Vorstöße zum Gipfel waren im Frühjahr 1924 bereits gescheitert, und nun blieben nur noch wenige Tage für einen dritten und letzten Versuch, auf dieser Expedition das Ziel zu erreichen. Für Mallory würde es sogar die wohl letzte Chance sein, denn für das enorm anstrengende Bergsteigen in einer Höhe von mehr als 8000 Metern wäre er vielleicht schon beim nächsten Anlauf in wenigen Jahren zu alt. Möglich, dass er deshalb seine gerühmte Umsicht zurückstellte – immerhin galt er als „besessen“ vom Mount Everest.

Eine letzte Nachricht

Was geschah zwischen dem Aufbruch von Mallory und Irvine am Morgen des 6. Juni und dem Nachmittag des 8. Juni, als Noel Odell eine improvisierte Suche begann? Für knapp 48 dieser rund 60 Stunden gibt es Indizien: Zunächst erkletterten die beiden mit acht Sherpas den Weg zum vorletzten Lager. Es lag auf 7711 Metern Höhe am Nordgrat. Die Träger schleppten vor allem Sauerstoffflaschen, denn Mallory hatte sich entschieden, für den letzten Angriff auf den Everest doch Atemgeräte zu verwenden. Bis dahin hatte er dieses Hilfsmittel stets abgelehnt.

Am 7. Juni dann machten sich die Briten mit vier Sherpas auf zum Lager VI, der letzten Raststätte auf 8169 Metern Höhe. Von hier aus, so hoffte Mallory, ließe sich der Weg zum Gipfel und zurück binnen etwa zwölf Stunden bewältigen, also bei Tageslicht. Die Sherpas stiegen wieder ab und überbrachten dem Expeditionsfotografen John Noel eine kurze Nachricht von Mallory: „Lieber Noel, wahrscheinlich brechen wir morgen früh auf, um klares Wetter zu haben. Es wird nicht zu früh sein, um acht Uhr nach uns Ausschau zu halten. Ihr G. Mallory“. Mit Sicherheit erreichten die beiden Gipfelstürmer eine Höhe von 8461 Metern, denn hier fand man 1999 eine leere Sauerstoffflasche von 1924.

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Ein weiteres, letztes Lebenszeichen ist noch überliefert: Gegen 12.50 Uhr am 8. Juni erspähte Odell zwei winzige Punkte auf einem Schneefeld unterhalb des Gipfels, doch verfolgen konnte er ihren Weg nicht, weil Nebel die Sicht behinderte. Doch wo genau sah Odell die beiden? Am sogenannten „First Step“ auf rund 8568 Metern? Dann wären sie langsam vorangekommen, denn diese Formation ist nur rund vier Kletterstunden vom Lager VI entfernt.

Oder war es der „Second Step“, an dem Odell sie sah? Dagegen spricht, dass diese 30 Meter hohe Stufe so schwer zu klettern ist, dass es erst 75 Jahre später einem Bergsteiger gelang, sie ohne Hilfsmittel wie Leitern oder Seile zu bezwingen. Falls aber Mallory und Irvine das geschafft hätten und um 12.50 Uhr schon am „Third Step“ waren, der letzten Stufe vor dem Gipfel, dann hätten sie wohl auch die letzten Meter auf den höchsten Punkt der Erde bewältigt. Doch Beweise dafür gibt es nicht.

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Immerhin machte der Fund von Mallorys Leiche etwas klarer, was den beiden auf dem Rückweg widerfuhr, ob nun nach einem Erfolg oder einem Scheitern. Ziemlich sicher stürzten sie beim Abstieg ab, denn Mallory trug kein Sauerstoffgerät mehr, hatte es also irgendwo zurückgelassen; die Bänder seiner Maske fanden sich in einer Tasche.

Außerdem hatte er die Schneebrille abgenommen und weggesteckt – also kann die Sonne nicht mehr geschienen haben, als die beiden ihr Schicksal ereilte. Drittens waren sie vom Weg auf dem Grat abgewichen und stiegen quer ab zum Lager. Das zeigt der Fundort der Leiche.

Was also geschah am späten Nachmittag des 8. Juni 1924? Wahrscheinlich gingen die beiden Bergsteiger, ob sie nun den Gipfel bezwungen hatten oder nicht, aneinander geseilt zurück. Irvine dürfte vorausgegangen sein, Mallory als der erfahrenere Kletterer hinterher. Vermutlich verlor einer der beiden auf dem 35 Grad steilen Hang den Halt, und weil sie keinen Sauerstoff mehr hatten, war ihre Reaktionsfähigkeit herabgesetzt. Was mit Irvine passierte, ist weiter unbekannt, aber George Mallory rutschte ab.

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Das Hanfseil, das die beiden verband, riss – und Mallory stürzte und schlug hart auf. Der Aufprall brach ihm mehrere Rippen, außerdem sein rechtes Schien- und Wadenbein. Sicher starr vor Schmerz schlitterte er weiter den Hang hinab, schaffte es aber irgendwie noch, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Seine Handschuhe verlor er, seine Kleidung war am Rücken aufgerissen. Vermutlich versuchte er, sich mit den nackten Händen abzubremsen. Doch dann schlug seine Stirn auf die scharfe Kante eines Steins. Einige Meter tiefer war der Hang etwas weniger steil; hier blieb der schwer verletzte Mallory liegen.

Tot war er noch nicht, denn er legte noch instinktiv sein unverletztes linkes Bein über den gebrochenen rechten Unterschenkel. Doch mehr bewegen konnte er sich nicht mehr. Seine ohnehin unzureichende Kleidung war aufgerissen, der steife Wind riss weiter an ihren Fetzen. Als der Leichnam 75 Jahre später entdeckt wurde, waren seine Beine und sein Rücken nackt. Doch weil keine Anzeichen von Erfrierungen zu erkennen waren, muss er bereits tot gewesen sein, als die nächste Kälte des Mount Everest über ihn kam.

Vermisst bis heute

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Was Andrew Irvine geschah, ist ein Jahrhundert später noch immer offen. Vielleicht stürzte er 2000 Meter hinab auf den Gletscher zu Füßen des Massivs? Vielleicht aber riss ihn Mallory nicht mit in die Tiefe; dann hätte der junge Mann wohl den Rückweg zum schützenden Lager VI angetreten. Ein chinesischer Bergsteiger sagte 1979 während eines Aufstiegs zum Everest dem japanischen Leiter der Expedition, er habe vier Jahre zuvor auf etwa 8100 Metern Höhe die „Leiche eines Engländers“ gesehen, der „wie schlafend auf der Seite am Fuße eines Felsens“ gelegen habe.

An der altmodischen, westlichen Kleidung habe er erkannt, dass es sich um einen Briten gehandelt habe. Allerdings starb der Chinese am folgenden Tag durch eine Lawine, bevor er genauere Angaben machen konnte. Wenn seine Beobachtungen zutrafen, müsste das Irvine gewesen sein, der auf dem Rückweg zum Lager war und weniger als eine halbe Stunde vor dem Ziel aus Erschöpfung niedergesunken und erfroren ist. Denn auf dieser Höhe ist kein anderer Bergsteiger vermisst, der solche Kleidung getragen hatte.

Die wichtigste Frage zu Mallory und Irvine bleibt auch weiter ungeklärt: Erreichten die beiden schon 1924 den Gipfel? Die Hoffnung, die Kamera zu finden, die sie bei sich hatten, erfüllten sich nicht. So bleibt es Spekulation, ob auf dem Film eine Aufnahme gewesen wäre, die auf dem Gipfel aufgenommen worden war. Auch die Tatsache, dass bei Mallorys Leichnam nicht das Foto seiner Frau gefunden wurde, das er auf dem Gipfel hinterlassen wollte, ist höchstens ein schwaches Indiz. Vielleicht hat es der schwer verletzte Bergsteiger auch aus der Tasche geholt, als er den Tod kommen fühlte? Um seiner großen Liebe ein letztes Mal in die Augen zu schauen?

Auch nach 100 Jahren bleibt das Rätsel um das Drama auf dem Dach der Welt ungelöst. Vielleicht für immer.

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